Der schwere Duft von orientalischen Gewürzen schlug Chris entgegen, als er zusammen mit Ahay eine Stunde später das Nirula‘s betrat. Das Lokal mit seinem Gewölbe erinnerte ihn an die Kellerbar in Würzburg, seine zweite Heimat während des Studiums, nur dass die Decke hier über und über mit goldenen Mosaiken besetzt war, die sanft im gedimmten Licht glänzten. Hinter der Theke zog ein drahtiger Inder gerade herrlich duftendes, frisch gebackenes Naan auf einem langen Brett aus dem Holzbackofen, während eine Frau im Sari Gläser abtrocknete und in ein Regal räumte.
Die Wände aus Naturstein waren mit ausdrucksstarken Schwarzweiß-Fotografien bekannter Sehenswürdigkeiten geschmückt. Chris erkannte die Mayastadt Chichen Itza, die Chinesische Mauer, das Kolosseum in Rom und das Taj Mahal, das sich nicht weit von hier in der Stadt Agra befand.
„Eine Demonstration unglaublicher Macht der Herrscher, nicht wahr?“ Ahay war neben ihn getreten und deutete auf die Bilder, die er gerade bewunderte. „Egal ob Kaiser, Pharao oder Mogul, getrieben von ihrer unbezähmbaren Gier haben sie alle ihren Reichtum auf Kosten anderer erzielt.“
Ein Kellner, dessen weißer Anzug in einem eleganten Kontrast zu seiner dunklen Haut stand, erschien und begrüßte sie freundlich. Die Brille mit Goldrand verlieh ihm etwas Aristokratisches. Er führte sie zu einem runden Zweiertisch im hinteren Bereich des Restaurants.
Chris hatte keine Erklärung gefunden, was mit ihm am Nachmittag geschehen war. Er war tatsächlich vor einem Müllmann davon gelaufen, der ihm nur seine verlorenen Kopfhörer wieder geben wollte. Und trotzdem, der Arkadengang war exakt derselbe gewesen, wie in seinem Traum und Archisha war ebenfalls dort. Oder hatte er sich am Ende alles nur eingebildet? Emma jedenfalls wurde nicht müde ihn daran zu erinnern, dass er zu viel arbeitete und oft angespannt wirkte.
Der Kellner näherte sich ihrem Tisch und riss ihn aus seinen Gedanken. Chris bestellte, wie immer wenn er auf Reisen war, ein regionales Bier. Diesmal entschied er sich für ein „Tiger“.
Wie er es schon von seinen indischen Kollegen gewohnt war, bot ihm auch Ahay an, die Speisen für ihn auszuwählen. Anders als in Deutschland bestellte man mehrere Gerichte, von denen sich jeder bediente.
Eifrig nickend notierte der Kellner Ahays Wünsche. Währenddessen schaute sich Chris um. Viele der Tische waren belegt, meist von Männern in Anzügen, aber auch eine Gruppe amerikanischer Touristen hatte an einer langen Tafel Platz gefunden.
Ahay entpuppte sich als interessanter Gesprächspartner und zwischen ihnen entwickelte sich schnell eine angeregte Unterhaltung über Alltag und Glauben in der indischen Gesellschaft. „Die Religion der Sikh, derer ich angehöre, basiert auf einem pragmatischen Ansatz. Nicht fromme Worte, sondern Respekt und die gute Tat sind maßgeblich für ein gottergebenes Leben. Solange Egoismus die Welt regiert ist unserer Ansicht nach kein Frieden möglich, weder mit der Schöpfung, noch unter den Menschen oder mit uns selbst.“
Ahay nippte an seinem Jasmin-Tee, den der Kellner in der Mitte des Tisches auf einem Stövchen platziert hatte. „Das Entscheidende im Leben ist doch, wann Sie sich glücklich und zufrieden fühlten. Als Sie ein Projekt im Beruf erfolgreich abgeschlossen haben? Den Abend mit Ihrer Freundin vor dem Fernseher saßen oder sich endlich das neue Handy gönnen konnten?
Oder sind es die Momenten, in denen Sie in den Bergen über das weite Land schauten? Am Strand aufs Meer blickten oder einfach nur auf einer Wiese lagen, um den Vögeln zuzuhören oder in den Sternenhimmel zu blicken? Die Zufriedenheit im Hier und Jetzt, also das Sein sollte immer im Mittelpunkt stehen. Doch wie häufig wird es im Alltag vom haben wollen verdrängt?“ Ahay lächelte Chris an. „Wann saßen Sie zum Beispiel das letzte Mal einfach nur im Gras?“
Chris zuckte mit den Schultern. Wahrscheinlich hatte er das noch nie getan, wozu auch?
„Sie betrachten es als Zeitverschwendung, nicht wahr? Stattdessen bedienen Sie ihre 500 Facebook Freunde, gehen ins Fitnessstudio oder arbeiten acht Stunden am Tag. Jeder ist ständig in Action, egal ob im Büro oder in der Freizeit. Einfach nur zu Sein wird gleichgesetzt mit nichts tun und hat damit kein gutes Image.“
„Warum ist das so wichtig?“
„Allein das Sein schenkt uns Zufriedenheit, Besonnenheit und wahres Glück. Das wiederum strahlen wir aus und geben es ohne etwas tun zu müssen an unsere Mitmenschen weiter. Leider funktioniert dass auch wenn wir ärgerlich, wütend oder voller Hass sind. Auch mit diesen Gefühlen infizieren wir sozusagen unser Umfeld. Die Kunst des Lebens besteht nicht darin, das Morgen zu planen, sondern den Moment zu lieben, in dem wir uns gerade befinden.“
Der Kellner brachte einen Korb voll Naan und verschiedene Dips. „Nehmen Sie, solange es noch warm ist. Die Joghurt-Knoblauch-Soße ist sehr zu empfehlen.“
Chris dippte das fladenartige Brot in die duftende Sauce und biss hinein. Ahay hatte nicht zu viel versprochen. Es schmeckte vorzüglich. Hier den Moment zu lieben, fiel ihm leicht.
„Haben Sie schon einmal Urlaub gemacht und einfach nur die Seele baumeln lassen?“
Chris dachte an ihre letzte Reise auf die Malediven und nickte. Zehn Tage lang hatten sie ihre Zweisamkeit auf der kleinen Insel genossen, schnorchelten und saßen am Abend bei einem Glas Wein im Whirlpool auf der auf Pfählen gebauten, bis ins Wasser reichenden Terrasse und beobachteten, wie die glutrote Sonne am Horizont langsam im Meer versank.
„Und sind Sie damals mit der Absicht heimgekommen, diese Gelassenheit in den Alltag zu übernehmen?“
Ahay hatte Recht. Jedes Mal nahm sich Chris vor, auch im Alltag gelassener zu sein, doch stets war nach wenigen Tagen der Zauber des Urlaubs wieder verflogen.
„Ihre Seele wünscht sich mehr von diesen Momenten, doch leider kann sie sich nicht durchsetzen. Lieber eifern wir einer kleinen Gruppe nach, die in einer materialistischen, selbstsüchtigen Gier uns dazu drängt, immer mehr als nötig zu tun und so das Sein zu zerstören. Unsere Bestimmung ist Wachstum, deshalb sind wir hier auf der Erde. Doch verwechseln wir dabei zu oft geistiges mit materiellem Wachstum.“
Der Kellner entzündete mehrere Stövchen und verteilte Schüsseln mit Fleisch darauf. Lamm in Minze, Ente in Curry und Tandori Hühnchen. Ahay belud ein Stück Naan mit Lammfleisch und steckte es sich in den Mund.
Chris griff in den Brotkorb und versuchte, das Naan ebenso zu falten wie Ahay. Doch stellte er sich nicht so geschickt an. Nachdem auch beim dritten Versuch das Lamm wieder in den Topf zurückfiel, schöpfte er das Fleisch mit dem Löffel auf seinen Teller.
„Welche Gruppe meinen Sie?“, fragte Chris.
„Die, die unseren Alltag diktieren. Die, die unsere Gesellschaft zu dem gemacht hat, was sie ist. Gierig und egoistisch.“
„Trägt dazu nicht jeder seinen eigenen Teil dazu bei?“
Ahay lächelte. „Das ist richtig, aber doch nur, weil wir so erzogen wurden. Das Ziel ist ein eigenes Haus mit Garten und einem schicken Auto in der Garage. Dazu noch 2-3 Mal Urlaub im Jahr, um sich von dem Stress zu Hause zu erholen. Doch wer hat den Mut auszuprobieren, ob es nicht sehr viel einfacher geht? Wer hat den Mut sich einen Alltag zu erschaffen, von dem er keinen Urlaub braucht? Wir verschwenden unsere Energie für Dinge, die uns niemals eine nachhaltige und dauerhafte Veränderung bescheren. Im Gegenteil, wir müssen immer weiter schuften, um unserem Materialismus zu frönen und das hart erarbeitete Gut zu erhalten. Aber wehe der Nachbar hat mehr, dann geben wir noch mehr Gas, drehen unser Hamsterrad noch schneller. Leider vergiften wir unsere Gesellschaft dadurch konsequent und nachhaltig.“
„Das wird sich wahrscheinlich nicht ändern lassen“, entgegnete Chris skeptisch.
„Aber doch nur, weil die Menschen mit ihrem Streben nach schneller, weiter, höher sich selbst diesem Stress aussetzen. Was glauben Sie was passiert, wenn ein Großteil der Menschen aus diesem System aussteigen würde? Wenn alle sagen würden, genug gearbeitet, es reicht, jetzt lebe ich!“
Chris zuckte mit den Schultern. „Dann würde alles zusammenbrechen.“
„Oder die Menschen würden endlich frei sein, anstatt als Arbeitssklaven der Reichen und Mächtigen zu dienen.“
„Sind Sie Kommunist?“
Ahay lachte. „Nein, Gott bewahre.“
Einen Moment saßen sie schweigend da, dann fragte Ahay: „Haben Sie sich schon einmal mit Psychopathen beschäftigt?“
Chris schüttelte den Kopf.
„Psychopathen kennen weder Angst noch Empathie. Ihnen ist egal, was die Zukunft bringt oder ob sie durch ihr Handeln etwas verlieren könnten. Sie verschwenden keinen Gedanken daran, was andere über sie denken oder sagen. Ideale Voraussetzungen, um gesetzte Ziele zu verfolgen, finden Sie nicht?“
„Solche Leute sucht mein Chef immer.“ Chris grinste.
„Genau darin liegt das Problem. Obwohl nur etwa drei Prozent der Menschen zu den Psychopathen zählen, sitzen die Intelligenten von ihnen überproportional häufig an den Schalthebeln der Macht. Sie sind furchtlos, sie sind gierig. Das macht sie so erfolgreich und leider zum Vorbild vieler Menschen. Dabei kann man Psychopathen keinen Vorwurf machen. Ein Defekt blockiert ohne ihr Wissen Gehirnaktivitäten in den Bereichen, die mit dem Furchtsystem zusammenhängen. Bei uns heißt es: Wenn einer nach Führung strebt, verweigere sie ihm!“
„Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.“
„Chris, ein Großteil der Führer sind Psychopathen. Nur deshalb leben wir in dieser schrecklichen, kriegerischen Welt, denn diese wenigen beeinflussen das Kollektiv, reißen die Massen an sich.“
Der Kellner servierte Chris ein neues Bier und schenkte Ahay aus einer frischen Kanne dampfenden Tee ein. Der Geruch von Jasmin mischte sich unter den der Speisen. Als er sich wieder vom Tisch entfernt hatte, fuhr Ahay fort.
„Auf was ich hinaus will ist Folgendes: Angenommen es wäre, wie ich sage und Sie hätten die Chance, die Welt von all diesen Psychopathen zu befreien, würden Sie handeln?“ Ahay schaute Chris erwartungsvoll an.
„Vielleicht. Aber was würde sich damit ändern?“
„All die Gier und das ganze Machtgehabe der Menschen würden verschwinden. Genauso der Materialismus und kriegerische Auseinandersetzungen. Die Welt wäre vom Hunger befreit und die Umweltzerstörung gestoppt.“
Es war eine schöne Vorstellung für Chris, dass auf der Erde wieder paradiesische Bedingungen Einzug erhalten könnten, denn auch seiner Meinung nach lag vieles im Argen. Doch klangen die Worte Ahays in seinen Ohren äußerst fantastisch.
Ahay wischte sich mit einer Serviette über den Mund. „Ich will Ihnen ein Geheimnis verraten. Ich habe Zugang zu einem uralten Wissen, auf das nur wenigen Menschen zugreifen können.“ Er wartete, bis der Kellner ein vollbeladenes Tablett an ihnen vorbei getragen hatte, bevor er weiter sprach. „Dadurch kenne ich nicht nur den Grund für den Gehirndefekt, sondern ich weiß, wie er unschädlich gemacht werden kann!“
Auf Chris Stirn bildeten sich Schweißperlen. Das Hühnchen, von dem er gerade gegessen hatte, war ziemlich scharf.
„Hier, nehmen Sie ein wenig von dem Joghurt-Dip, das neutralisiert.“ Lächelnd hielt ihm Ahay ein Tonschälchen mit der weißen Sauce hin.
Hastig schob sich Chris einen Löffel voll in den Mund. Er teilte Ahays Begeisterung nicht. „Selbst wenn es stimmt, was Sie sagen, wie wollen Sie denn all diese Menschen dazu bewegen, eine Therapie zu machen?“
Ahay schüttelte den Kopf. „Es geht nicht darum, die Psychopathen zu therapieren, sondern wir öffnen den anderen 97 Prozent die Augen!“